„Man schaut anders in die Straßen hinein“
Die Filmemacherin Juliane Henrich führte mit Sevrina Giard und Theo Steiner ein Interview über das Projekt
Jemandsland – zur Arbeitsweise und den persönlichen Hintergründen des Projekts.
Das Gespräch fand am 21. Juli 2022 in Berlin statt.
Juliane Henrich:
Beim Blättern – oder besser gesagt beim Scrollen – durch euer Buch war ich ganz hingerissen von diesen Augenblicken und Situationen und Anordnungen, die ihr da gefunden habt und die einerseits was ganz Schonungsloses haben, aber auf der anderen Seite auch voller Poesie und Lebenszugewandtheit sind. Und ich war ein bisschen erinnert an den Fotoband „The Americans“ von Robert Frank, den er in den fünfziger Jahren fotografiert hat. Glaubt ihr, euer Buch könnte man auch unter der Überschrift „Die Europäer“ lesen? Ohne dass man das jetzt so hoch hängen muss – glaubt ihr, eure Arbeit erzählt etwas Bestimmtes über das Europa der Gegenwart?
Theo Steiner:
Also, ich glaube schon, dass wir in einem ähnlichen Geist wie Robert Frank unterwegs gewesen sind, weil wir ja tatsächlich an die Menschen oder besser gesagt an den Alltag herankommen wollten. Auch mit allen Zufälligkeiten, die im Stadtraum halt passieren und die für Robert Franks Arbeit auch ganz wichtig waren.
Gregory Halpern sagte kürzlich in einem Interview, dass ihn seine Situation als Fotograf immer wieder an die Performance „The Artist Is Present“ von Marina Abramović erinnert. Wenn man jemanden ruhig und unverwandt anschaut, gilt das meist als unhöfliches und aufdringliches oder sogar bedrohliches Verhalten. Beim Jemandsland-Projekt war es für uns ein großes Anliegen, dass unser Schauen von den Ortsansässigen als respektvoll und in einem unaufdringlichen Sinn neugierig wahrgenommen wird.
Sevrina Giard:
Wir waren in acht europäischen Städten unterwegs und wollten einen Einblick in den Alltag der Menschen geben, die verschiedenen Farben von Europa zeigen, die es gibt. Das sind natürlich immer nur Momentaufnahmen, denn wir waren nur eine kurze Zeit in der jeweiligen Stadt. Aber wir konnten dabei einen kleinen Ausschnitt der Vielfältigkeit aufnehmen. Wir haben uns allerdings nicht für eine stilistische Einheitlichkeit der Bilder interessiert, wie bei Robert Frank. Auf unseren Stadtwanderungen haben wir uns auch nicht rein auf die Darstellung von Menschen fokussiert, sondern sehr genau auf ihre Zeichen, Bilder und Gegenstände geachtet.
Juliane Henrich:
Wie kam dann eigentlich die Auswahl der Orte zustande? Warum wart ihr gerade an diesen Orten?
Theo Steiner:
Wir hatten uns eigentlich früh dafür entschieden, dass es nur Europa sein soll. Erstens ist das der Kulturraum, mit dem wir am besten vertraut sind. Dann hatten wir natürlich auch nur begrenzt Zeit; die Reisen mussten in einem halben Jahr durchgeführt werden. Wir haben Orte genommen, an denen wir schon wenigstens einmal gewesen waren, also wo wir ein bestimmtes Vorwissen hatten.
Und mit diesem neuen Projekt, mit diesen neuen Brillen wollten wir noch einmal neu hinschauen.
Deshalb haben wir überlegt: Wo in Europa waren wir beide schon mal? Gemeinsam oder auch getrennt. Und so ist diese Auswahl zustande gekommen.
Sevrina Giard:
Es ging darum, zu schauen, ob oder wie so eine Vielfalt für unser Projekt funktioniert, zu erproben, ob das, was wir uns für das Forschungsprojekt ausgedacht hatten, auch so an diesen verschiedenen Orten sichtbar wird. Man geht ja wieder mit gewissen Erwartungen in so eine Stadt hinein und es war sehr überraschend zu sehen, wie wir nun die Orte neu wahrnehmen – mit dem Abstand von etlichen Jahren und mit Hilfe der gegebenen Geschichten.
Zum Beispiel waren wir beide Anfang der neunziger bzw. achtziger Jahre in Athen gewesen und die Stadt hatte sich deutlich verändert. Jetzt mussten wir schauen: Wo können wir uns heute andocken?
Was ist passiert in der Zwischenzeit? Das war sehr, sehr spannend.
Juliane Henrich:
In fast allen Städten wart ihr nicht zu Hause, sondern kamt als Gäste, wie ihr schreibt. Wie ist denn überhaupt die Idee zu diesem Projekt entstanden?
Theo Steiner:
Dieser Gäste-Status hat ganz viel mit dem Jemandsland-Konzept zu tun. In der Streetfotografie entstehen gerade viele sensationelle Bilder, sehr spektakuläre Momente, dramatische Szenen; und eine Stadt wirkt da immer als ein spektakuläres Bühnenbild. Das sind wunderbare Bilder, die da entstehen, aber wir hatten das Gefühl, das ist nicht das, was wir beitragen möchten. Städte sind nicht immer dramatisch und spektakulär.
Wir streifen sowieso sehr viel gemeinsam durch die Straßen und da hat es sich 2015 auf einer Stadtwanderung entwickelt, dass wir uns gegenseitig ein Thema gegeben haben. Normalerweise geht man durch die Stadt und nimmt das mit, was einem auffällt, was man interessant findet. Und damals ist dieses Spiel entstanden: Ich gebe dir eine kleine Geschichte mit und du schaust, ob du etwas Passendes dazu findest. Am Anfang war das nur ein Spiel, aber dann haben wir damit weitergemacht, wenn wir auf Reisen waren, zum Beispiel in Prag, in Venedig. Und 2018 wollten wir eben schauen, was diese Methode so zu bieten hat, wenn wir sie systematisch anwenden.
Sevrina Giard:
Wir haben uns immer Themen gegeben, die einerseits etwas mit der Stadt zu tun haben, dann aber auch sehr viel mit dem Gegenüber. Letztendlich ging es darum, uns gegenseitig mit einem Thema einzuladen: Setze dir diese Brille auf, mit der du die Umgebung erforschst. Das heißt: Wir haben gegenseitig eine Einladung formuliert, um den Klischees oder den eigenen eingefahrenen Sehgewohnheiten zu entgehen. Man hat ja immer so eigene Themen, wie und was man fotografiert.
Und um mal rauszugehen, aus der eigenen Komfortzone, weg von der gewohnten Sichtweise, dafür war diese Einladung großartig. Man vermeidet so auch die Gefahr der klassischen Streetfotografie, diese großen Bilder, diese solitären, tollen Aufnahmen. Es gibt ja in der Streetfotografie einen sehr beliebten Ansatz, wir nennen das immer die »Warter«: Die suchen sich ein schönes Surrounding, einen spannenden Background und setzen sich dann stundenlang auf die Lauer und gucken, dass jemand vorbeiläuft, bis es ein gutes, spektakuläres Foto gibt. So eine Herangehensweise liegt uns nicht.
Im Jemandsland-Projekt arbeiten wir viel narrativer. Viele Bilder ergeben zusammen eine Geschichte oder Facetten eines Themas. Es geht letztendlich nicht darum, das EINE Foto zu dem Thema zu schießen, sondern einfach ein Spektrum aufzumachen und auch das Publikum mit auf die Reise einzuladen, sich einfach mal die Stadt mit unseren Augen anzugucken. Wir sind ja auch immer gestreift, das heißt, wir haben vor allem Drive-by shootings gemacht.
Theo Steiner (lacht):
Du meinst: Walk-by shootings!
Sevrina Giard (lacht auch):
Ja, genau! Das heißt, wir sind durch die Stadt gelaufen und haben versucht, Entsprechungen, subjektive Interpretationen und Aspekte unserer Geschichten zu finden.
Dabei haben wir uns immer zusammen auf den Weg gemacht, die Orte zu erforschen. Das war ein spannendes Miteinander.
Theo Steiner:
Wir hatten eine schöne Metapher für diese Geschichten, die wir uns gegenseitig gegeben haben. Wir haben sie immer als »Wünschelruten« bezeichnet. Diese Einladung zu einem anderen Schauen, zu einem anderen Blick war für uns wie eine Wünschelrute, mit der wir uns durch die Straßen tasteten. So läufst du durch die Stadt und schaust mit ganz offenen Augen und mit einem ganz offenen Geist. Und du bist ständig am Fabulieren, du suchst und überlegst: Ist das, was ich da sehe, etwas, das in diese Geschichte passt? So wurde das ein ganz neues Fotografieren für uns. Manchmal hat die Wünschelrute gezuckt und wir haben was Passendes gefunden; manchmal haben wir im Nachhinein festgestellt, dass es doch nur eine Fehlermeldung war. Aber grundsätzlich
hat die Methode wirklich toll funktioniert: Man schaut wirklich anders in die Straßen hinein, denkend und Geschichten erzählend.
Sevrina Giard:
Es funktioniert auch nach dem Serendipity-Prinzip. Man findet etwas, das man so nicht erwartet und gesucht hätte. Man sieht Dinge, die man sonst überhaupt nicht gefunden hätte. Kleine Sachen springen dich auf einmal an, an denen du sonst vorbeigelaufen wärst.
Juliane Henrich:
Und hat sich so eine Geschichte eigentlich während des Aufenthalts herauskristallisiert oder hattet ihr euch eure gegenseitigen Trigger schon vorher gegeben?
Sevrina Giard:
Wir haben sie uns immer vor der Reise gegeben. Die Aufgabe war: Was könnte ein Trigger, eine Geschichte sein, die das Potenzial hat, auch als Metaebene zu funktionieren? Zum Beispiel das Thema des Trojanischen Pferdes, welches ich Theo für Athen gegeben habe. Der Trojaner ist die Metapher für eine Kriegslist, eine Täuschung. Er ist ein scheinbar schönes oder nützliches Objekt, welches seinen wahren Zweck verbirgt.
Theo hat mir für Athen das Thema der Sirenen gegeben, was als Symbol, als Wünschelrute für ganz vieles stehen kann – für Weiblichkeit, für einen Alarm, für Werbung. Wichtig war dann aber nicht nur, dass wir mit unseren Trigger-Geschichten »open minded« durch die Stadt gezogen sind, sondern dass wir immer zu zweit unterwegs waren. Dadurch konnten wir uns auch gegenseitig auf unsere Trigger aufmerksam machen.
Theo Steiner:
Dann war es schön, einen Hinweis zu kriegen: Schau mal, war das da hinten nicht interessant für dein Thema? Manchmal hatte man eben etwas übersehen. Ein anderes Mal hatte man es gesehen, aber aus bestimmten Gründen verworfen …
Der Auswahlprozess ist also teilweise schon während des Fotografierens passiert. Die nächste wichtige Phase kam dann immer abends.
Zurück in der Wohnung haben wir unsere Fotos natürlich gesichtet, haben uns darüber ausgetauscht, was wir geschossen haben an dem Tag. Das war das erste wichtige Feedback. Nach dem Abschluss der Reisen kamen natürlich weitere Feedback-Runden, bei denen wir das ganze Material ausführlich gesichtet haben. Und schließlich die wahrscheinlich wichtigste Phase war am Ende dann die Buch-Redaktion.
Das war eigentlich die wichtigste Prüfung, eine Phase, in der man sich überlegt, was bleibt stehen, womit und wie erzähle ich die Geschichte oder vielmehr: die Geschichten? Erzählt mein Material das, was ich gesehen hatte, was ich mir gedacht hatte?
Sevrina Giard:
Ja, das abendliche Sichten war schon ein total spannender erster Selektionsprozess: Zeig mir deine Lieblingsstücke; erzähl mir deine Geschichte dazu. Und es hat sich herausgestellt, einige Fundstücke haben einer Erläuterung bedurft: Was hat dieses Foto mit dem Trigger zu tun? Man läuft oft durch die Stadt, fotografiert etwas und weiß nicht, warum die Wünschelrute angeschlagen hat. Das war vielleicht einfach nur einem Gefühl oder einer Intuition geschuldet. Bei den abendlichen Gesprächen ging es somit auch um dieses Bewusstwerden und die Reflexion über diese Fundstücke.
Nach unserer Rückkehr haben wir probiert, das Material zu ordnen, Cluster zu suchen, zum Beispiel nach dem Wolfgang-Tillmans-Prinzip, das heißt, die Bilder assoziativ zu gliedern. Davon sind wir aber wieder abgekommen. Speziell durch die Arbeit am Buch begann eine Klärungsphase und wir konnten uns mit etwas zeitlichem Abstand dem Material neu nähern.
So ist auch die Idee entstanden, nicht nur die Fotos und ein paar begleitende Essays zu präsentieren, sondern die Bilder mit Kommentaren zu ergänzen. Schon in dieser Phase war unser Buchgestalter Tim Siegert eine Riesenhilfe, weil er den Blick von außen eingebracht hat, von jemandem, der nicht bei dem Projekt dabei gewesen war.
Theo Steiner:
So kamen wir dann eben zu der Idee mit der Kommentar-Ebene und etliche Bilder haben noch einen kleinen Text dazubekommen; einen Text, der einfach die Situation erzählt oder etwas über das Stadtviertel, wo dieses Bild entstanden ist.
Sevrina Giard:
So ein Begleittext soll gar nicht didaktisch erklärend sein, sondern man nimmt das Publikum mit auf die Reise und lädt es – wie auch durch die Bilder selbst – ein, die Reise mit unseren Augen zu betrachten. Die Menschen schauen sich unser Material an und können sehen, ob dadurch bei ihnen etwas zum Klingen gebracht wird. Sie lernen die Stadt natürlich durch unseren Blick auch anders kennen, abseits der bekannten Klischees oder auch abseits ihrer eigenen persönlichen Erfahrungen. Sie schauen sich unser Material an und finden heraus, ob sie eine Resonanz mit dem Gezeigten spüren.
Theo Steiner:
Ja, und wenn sich eine Resonanz bei jemandem ergibt, dann erzählt diese Person die Geschichte ja auch weiter. Es gibt eben nicht nur die Geschichten, die wir uns gegenseitig als Trigger gegeben haben, und jene, die wir in den Städten gefunden haben, sondern auch noch jene, die unser schauendes und lesendes Publikum weiterspinnt.
Juliane Henrich:
Und dann gibt es noch einen längeren Essay, der davon handelt, dass ein bestimmtes Bild nicht gemacht werden konnte …
Theo Steiner:
Dieser Essay behandelt ein bestimmtes Erlebnis in Athen, das gar nicht direkt mit unseren Themen zu tun hatte. Diese Geschichte ist aber exemplarisch gemeint, weil eigentlich gab es auf der ganzen Reise immer wieder Bilder, die wir nicht machen konnten. Unsere Herangehensweise bestand ja darin, dass wir immer als Gäste in ein Jemandsland eintauchen, in ein Territorium, das jemandem gehört. Jenen Menschen, die dort wohnen. Gäste gibt es dabei in unterschiedlichen Ausformungen.
Es gibt sie als trampelnde touristische Horden, zu denen wir nicht gezählt werden wollten, und auf der anderen Seite gibt es respektvolle Gäste. Mit unserer Arbeit wollten wir nah an das Alltagsleben herankommen. Doch wir wollten keine Bilder anfertigen, die despektierlich sind, die Menschen irgendwie in schlechtem Licht zeigen. Und dieser Essay, den du angesprochen hast, behandelt ein besonderes Erlebnis, das uns außerordentlich stark beschäftigt hat.
Wir waren in Athen im Marktviertel, wo sehr viele arme Menschen unterwegs waren, versucht haben etwas zu
verkaufen, irgendwelche Dinge oder ihre Arbeitskraft. Und plötzlich liefen da drei Menschen durch die Straße, die unglaublich zerstörte Körper hatten und ein sehr auffälliges, ungewöhnliches Benehmen zeigten: mit lauten Rufen und einer seltsam verbrannten Haut. Sie liefen mitten auf der Straße und dann haben sich die zwei Männer und die Frau an der nächsten Kreuzung auf einen Müllbehälter gestürzt und den durchsucht. Alle anderen hier in dieser Straße waren plötzlich Publikum einer gespenstischen Szene, die uns total erschreckt hat. Ich hatte das Gefühl, keiner von uns wusste, wie man damit umgehen soll. Wir konnten ja nicht einmal einordnen, was deren Probleme sind. So, wie diese Menschen aussahen, hätten sie von Kampfstoffen versehrt sein können oder von irgendeiner Droge oder was auch immer. Also, ich hatte solche Körper noch nie im Leben gesehen gehabt. In so einer ungewöhnlichen Situation könnte man womöglich auch zur Kamera greifen. Aber in diesem Moment hat – da bin ich mir sicher – niemand von uns daran gedacht, ein Foto zu machen. Man macht ja auch keine Fotos von einem Unfallopfer, an dem man vorbeikommt.
Jedenfalls ist uns diese Begegnung unheimlich stark nachgegangen, hat uns wahnsinnig lange beschäftigt, auch noch nach der Reise. Und deshalb ist dazu dann dieser kleine Essay entstanden.
Aber der Text steht, wie gesagt, exemplarisch für alle Szenen, die wir nicht fotografiert haben. Wir sind sicher sehr neugierig, aber wollten als möglichst unaufdringliche Gäste in den Alltag der Menschen eintauchen.
Juliane Henrich:
Du erwähnst in deinem Essay unter anderem auch diesen Susan-Sontag-Text „Das Leiden anderer betrachten“. Ich habe jetzt noch mal ihre Essaysammlung „Über Fotografie“ zur Hand genommen, wo sie unter anderem sagt: »Das Fotografieren ist seinem Wesen nach ein Akt der Nichteinmischung«. Und da würde mich interessieren, ob ihr das auch so erlebt habt oder ob es auch Situationen gab, wo ihr in Geschichten verwickelt wurdet. Oder ob es auch den Ansatz gab, explizit mit Leuten ins Gespräch zu kommen und darüber Geschichten zu sammeln?
Theo Steiner:
Ja, wir sind durch das Fotografieren oft mit Menschen ins Gespräch gekommen.
Manchmal, wenn wir in eher touristisch erschlossenen Gebieten unterwegs waren, hatten praktisch alle Menschen eine Kamera vor der Nase und wir sind nicht weiter aufgefallen; selbst wenn wir eher ungewöhnliche Dinge fotografiert haben, keine Sehenswürdigkeiten eben. Anders war das in den ruhigeren Gegenden, in Wohnvierteln und so. Da ist es den Menschen schon aufgefallen, wenn wir Dinge fotografiert haben, die für sie selbst nicht unbedingt bildwürdig waren. In solchen Situationen sind wir oft darauf angesprochen worden. Die Leute wollten wissen: »Was machen Sie denn da?« Dann haben wir ihnen ein bisschen von unserem künstlerischen Forschungsprojekt erzählt, und sie fanden das eigentlich immer ganz, ganz spannend.
Sevrina Giard:
Zum Beispiel waren wir in Athen in dem Handwerksviertel unterwegs, wo wir gewohnt haben; da gab es einen alten Klempnerladen, dessen Schaufenster war voll mit allerlei altem Klempnerbedarf. Der Inhaber hat sich gewundert, ist rausgekommen und hat uns gefragt, wieso wir das denn fotografieren. »Mein Schaufenster hat noch niemand fotografiert.« Wir haben ihm dann erzählt, dass wir seine Sachen toll finden, schön und interessant. Da hat er sich sehr gefreut und so sind wir ins Gespräch gekommen.
Theo Steiner:
Was er dort im Schaufenster gezeigt hat, war nämlich seine alltagshistorische Sammlung, fast so etwas wie ein kleines Museum. So erfuhren wir, dass er oft mit Häusern zu tun hat, die danach abgerissen werden. Und in seiner Handwerker-Ehre schaut er sich eben die alten Verbindungsstücke, Rohre, Ventile und so was an, die es heute nicht mehr gibt. Deshalb hat er in dem Schaufenster sein kleines Museum eingerichtet und wir haben ihm die Freude gemacht, dass wir die Sammlung eines Blickes gewürdigt haben. Über solche Themen kommt man schnell miteinander ins Gespräch.
Juliane Henrich:
Aber hattet ihr auch mal überlegt, tatsächlich Interviews zu führen?
Theo Steiner:
Ja, wir hatten das schon auch diskutiert – bei der Frage, wie wir unsere Methode verorten. Unser Projekt ist in erster Linie künstlerische Forschung; wir sprechen da auch von ästhetischer Sozialforschung. Aber in medialer und methodischer Hinsicht ist uns die visuelle Ethnologie, visual ethnography, schon sehr nah.
Die visuelle Ethnologie arbeitet mit vielen verschiedenen Medien – mit Notizen, Fotografien, filmischen Aufnahmen und natürlich auch mit Interviews. So ähnlich arbeiten wir auch, aber Gespräche systematisch einzubauen, das hätte leider den zeitlichen Rahmen unseres Projekts gesprengt. Wir hatten uns ja für kurze Aufenthalte entschieden, weil wir in einem vergleichbaren Setting arbeiten wollten wie herkömmliche touristisch Reisende.
Mit unserer Jemandsland-Methode praktizieren wir zwar einen anderen Zugang zu einer Stadt, aber eben nicht im Rahmen eines mehrmonatigen Aufenthalts, sondern während der üblichen Dauer einer Städtereise. Wir waren eine Woche, zehn Tage, manchmal vierzehn Tage vor Ort und dementsprechend wäre nicht die Zeit gewesen, dann auch noch Interviews zu führen. Wir sind ja von morgens bis abends unterwegs gewesen, allein um zu fotografieren, das ganze Material zu sammeln. Sevrina hat manchmal auch gefilmt. Und wir haben zwischendurch oder abends Notizen gemacht.
Sevrina Giard:
Das Filmen ist auch ein bisschen hinten runtergefallen, weil für Film braucht man einfach mehr Zeit. Ich habe so kleine Snippets gemacht, Mini-Sequenzen. Ich hätte auf jeden Fall Lust, länger an einem Ort zu verweilen und dann auch zu filmen. Und dann auch mit den Leuten Interviews zu führen.
Theo Steiner:
Aber es sind ein paar kleine Filmsequenzen entstanden und ein bisschen was davon hat es auch ins Buch geschafft – in Form von Bilderserien.
Sevrina Giard:
Ja, ein paar Beispiele gibt es da. Aber vor Ort zu filmen wäre sicher immer spannend, auch Interviews zu führen, zusätzlich zum Thema. Ähnlich wie für die Zeitschrift Flaneur gearbeitet wird. Da ist das Redaktionsteam sechs Monate an einem Ort und schaut sich den Alltag in einer Straße an. Wir fänden es total spannend für einen längeren Zeitraum eine Stadt mit unserer Methode zu erforschen.
Theo Steiner:
Das wäre etwas für den nächsten Aufschlag, wenn man noch einmal ein Jemandsland-Projekt macht. Klar waren die Reisen körperlich ziemlich anstrengend, aber auf jeden Fall auch sehr ertragreich.
Mir ist zu der Frage nach der Interaktion mit den Menschen noch ein Beispiel eingefallen. Sevrina hatte auf Tinos ein sehr interessantes Gespräch mit einem Popen. Sie hat ja nach Wunder-Zeichen gesucht auf dieser Insel. Hinter der Wallfahrtskirche parkten viele Autos von Gläubigen, aber eben auch von Angestellten der Kirche. An vielen Rückspiegeln hingen irgendwelche Kruzifixe, Talismane und Glücksbringer. Sie hat davon schöne Fotos gemacht, nur so durch die Windschutzscheibe hindurch. Einfach immer den Rückspiegel mit diesen kleinen Amuletten, die da hingen.
Sevrina Giard:
Und dann kam ein Pfarrer heraus und hat mir gedroht, er holt jetzt sofort die Polizei, wenn ich nicht aufhöre, die Autos zu fotografieren. Ich war total irritiert. Er war wirklich sauer und ist plötzlich wieder reingegangen. Aber dann kam gleich ein anderer Pfarrer raus und hat sich mit mir auseinandergesetzt. Er wollte wirklich die Polizei holen, bis ich ihm gesagt habe, das ist ein privates künstlerisches Projekt. Ich fotografiere diese kleinen Glücksbringer und Talismane in den Autos, weil ich das ganz bezaubernd finde. Es sind ganz persönliche, kleine Geschichten, die mich sehr berühren. Damit war er schließlich versöhnt.
Vielleicht haben die Angestellten der Kirche schlechte Erfahrungen mit touristischen Gästen gemacht? Ich weiß nicht und konnte auch nicht wirklich rauskriegen, was sein Problem war. Aber der Konflikt hatte sich am Ende gelöst.
Juliane Henrich:
Gab es für euch ganz persönliche Gründe, warum ihr euch auf diese Art und Weise durch diese Städte bewegen wolltet?
Sevrina Giard:
Also, ich bin total neugierig und bummle ja immer so durch die Städte. Wenn wir spazieren gehen, bin ich immer diejenige, die hinten läuft, die alle Blättchen abzupft oder anschaut.
Mit der Jemandsland-Methode durch die Welt zu gehen entspricht also einfach meiner sonstigen Art zu wandern. Ich finde es sehr spannend, die Orte durch ein spezielles Thema zu filtern, zu kanalisieren und zu reflektieren.
Und dann bin ich natürlich ein Reise-Fan mit einem Reise-Gen. Ich liebe diese Mischung aus Fotografieren und Unterwegssein in der Welt. Deshalb war unsere Jemandsland-Expedition großartig. Es war eine intensive Reise-Erfahrung. All diese Orte aus bestimmten Blickwinkeln zu betrachten war aufregend, neu und sehr erkenntnisreich.
Theo Steiner:
Du bist eben auch ein Seefahrerkind.
Sevrina Giard:
Ja, das stimmt. Meine Eltern sind vor meiner Geburt mit der Handelsmarine zur See gefahren. Jedes Jahr zu Weihnachten gab es dann zuhause immer diese Diashows von den Reisen meiner Eltern aus den späten sechziger Jahren, also vor meiner Geburt, nach Kuba, Syrien und zu den norwegischen Fjorden. Und wir saßen dabei als Kinder mit weinenden Herzen. Ich bin ja in Ostdeutschland aufgewachsen, das heißt, dass diese Wunderorte nur sehr schwierig und auf Umwegen zu erreichen waren.
Ich habe mir diese Dias angeschaut und dachte: Da will ich hin! Für uns Kinder gab es Urlaubsreisen zu den Großeltern an die Ostsee, manchmal nach Sachsen oder in die Tschechoslowakei.
Aber dann kam die Wende. Nun durfte ich reisen und diese ganzen Sehnsüchte meiner Kindheit konnte ich auf einmal ausleben.
Meine erste Reise ist auch gleich nach Griechenland gegangen, weil ich als Kind Homers Ilias wie ein Märchenbuch gelesen habe und eigentlich diese Orte aus der Lektüre wiederfinden wollte. Aber diese Idealisierung von Griechenland habe ich natürlich nicht gefunden. Athen war wahnsinnig schmutzig, voller Smog und ich war sehr, sehr enttäuscht vom Vergleich mit meinem Bild von Griechenland, das ich mir als Kind gemacht hatte. Aber ich war immerhin unterwegs, konnte mir alles selber anschauen und war dann irgendwann auch wieder versöhnt. Mein Kindertraum ist in Erfüllung gegangen.
Theo Steiner:
Ich habe einen etwas anderen Background, weil ich in Österreich aufgewachsen bin und Reisen war jedenfalls nicht verboten oder allgemein stark eingeschränkt. Allerdings bin ich eher in so einem Topf-pflanzen-Milieu aufgewachsen. Gereist wurde höchstens mal in den Ferien.
Es gab im Sommer Urlaube mit meiner Mutter, die dann meistens nach Italien gingen oder nach Ungarn, also in nahe gelegene Länder. Als ich dann erwachsen wurde, führten mich meine ersten »selbständigen« Reisen nach Venedig und nach Athen.
Aber das Reisen hatte in meiner Familie noch eine andere, schwierigere Facette. Ich bin mit lauter Geschichten groß geworden, aus denen mir klar wurde, dass die Großelterngeneration im Wesentlichen durch den Zweiten Weltkrieg zum »Reisen« gekommen ist. Erst durch die kriegerischen Eroberungen sind die Männer rausgekommen, sind nach Nordafrika, nach Griechenland oder Russland gekommen, sind dort gefallen oder in Gefangenschaft geraten. Auch viele Frauen waren im Kriegsdienst quer durch Europa gekarrt worden.
Das waren für mich als Kind unheimliche Themen, die in dieser Generation immer verhandelt wurden. Dazu kommt, dass meine Familie auch abgesehen von diesen kriegerischen Verwerfungen ohnehin sehr stark an die Scholle gebunden war. Vielleicht habe ich deshalb Reisen nicht als etwas Positives wahrgenommen und musste mir das freie Reisen sozusagen erst erarbeiten. Ich musste meinen Topfpflanzen-Habitus erst verlernen.
Aber mittlerweile bin auch ich gerne unterwegs und finde es spannend andere Orte zu erkunden. Und ich kann das in so einem Projekt wie Jemandsland eben ganz toll mit meinen persönlichen Interessen verknüpfen. Ich bin nämlich ein ziemlich neugieriger Mensch. Nicht umsonst bin ich zur Fotografie gekommen und die Neugierde verbindet sich auch schön mit meiner Arbeit als Designtheoretiker. Durch meine design- und medienwissenschaftliche Arbeit für den Studiengang muss ich mich ja viel mit visuellen Kulturen beschäftigen oder mit der Sachkultur der Menschen.
Sevrina Giard:
Wir haben auf den Reisen nicht nur für unsere Trigger fotografiert und gesammelt, sondern auch viel »Beifang« fotografiert, wie das Seefahrerkind in mir jetzt sagen würde. Wir haben neben den Trigger-Themen auch sehr viel Atmosphärisches gefunden. Bilder, die es dann nicht ins Buch geschafft haben, aber trotzdem Ergebnisse unserer Reise sind und unser Projekt eben flankiert haben. Außerdem sammeln wir auch Bilder für unsere Archive.
Für meine Arbeit, speziell für Theaterproduktionen, wo ich Video-Bühnenbilder baue, oder auch für Medieninstallationen brauche ich immer ganz viel Material, um Ideen zu transportieren. So fülle ich ständig mein Archiv an visuellen Interpretationen, die ich dann bei Bedarf in bestimmte Formen gießen kann oder als Versatzstücke und kurze visuelle Statements in größere Arbeiten einbinden kann.
Juliane Henrich:
Theo, wo du vorhin angesprochen hast, dass du auch unterrichtest und dich mit visuellen Kulturen im weitesten Sinne beschäftigst …
War die Produktion des Jemandsland-Buchs auch ein Statement, das sich ein bisschen gegen diese Instagram-Kultur richtet, wo man eben die schnellen Bilder in der Timeline hat? Viele eurer Bilder sind sehr konzentriert, aber es sind auch schnappschussartige Bilder entstanden, die man in ähnlicher Form auch auf Instagram finden könnte. Aber ihr habt euch entschieden, die Ergebnisse eures Projekts als Buch in dieser konzentrierten Form zu präsentieren.
Theo Steiner:
Ja, die Präsentation in Buchform war eine ganz bewusste Entscheidung, denn es war uns wichtig, dass wir uns Zeit für die Darstellung der Ergebnisse nehmen. Klar, wir waren wie gesagt nur relativ kurz in diesen Städten, aber wir haben die Tage, egal ob sieben, zehn oder vierzehn, immer sehr intensiv ausgenutzt: Wir sind wirklich morgens los und dann immer den ganzen Tag unterwegs gewesen bis abends. Manchmal, wenn die Kraft gereicht hat, sind wir sogar nach dem Abendessen noch mal losgezogen, in die frühe Nacht hinein.
Wir haben uns sehr viel Zeit genommen zum Schauen und zum Suchen. Und bei der Frage nach der Präsentation unserer Ergebnisse war es uns dann ein ganz großes Anliegen, auch dem Publikum die Möglichkeit zu geben, an dieser Reise auf eine Art teilzunehmen und sich dafür eben Zeit zu nehmen. Die ausgewählten Bilder sollen halt nicht irgendwie auf einem Instagram Feed schnell mal durchflattern.
Das Tolle an so einem Fotobuch ist ja, dass es als Objekt da ist, dass man es sich in Ruhe anschauen kann; und so können sich die Geschichten entwickeln.
Deshalb arbeiten wir eben auch nicht primär in Einzelbildern. Es geht uns nicht um das eine ganz besondere Bild, auf das wir jetzt sechs Stunden gewartet haben. Sondern es geht ja darum, dass wir die Geschichte erzählen. Besser gesagt: dass sich die Geschichte aus dem gefundenen Material erzählt. Und die Erzählung passiert natürlich aus der Serie heraus, das heißt aus der Aneinanderreihung der verschiedenen Bilder. Eine kleine Trigger-Geschichte steht am Anfang und mit ihr im Kopf fotografiere ich durch die Stadt – in verschiedenen Straßen zu verschiedenen Zeiten. Ich erhalte zufällig bestimmte Ergebnisse und am Ende setzt sich dann aus meiner Auswahl von Bildern und durch die Kommentare, die ich dazugebe, etwas Neues zusammen.
Für all diese Prozesse braucht man Zeit. Dafür ist das Medium Buch ideal.
Sevrina Giard:
Ein Buch fordert einfach zu Langsamkeit auf. Du nimmst ein Blatt und blätterst um, du fasst es an, es hat eine haptische Komponente. Man kann Beziehungen zwischen Bildern aufbauen, eine gute Gestaltung unterstützt die Rezeption. Das Buch hat eine gewisse Dramaturgie. Ich glaube, diese Art von Geschichten, die wir erzählen, die sind eher für ein Buch geeignet als für einen Social-Media-Kanal.
Man könnte auf Insta jedoch flankierende Marketing-Maßnahmen platzieren, zum Beispiel Bilder von der Entstehung des Buches, oder die spätere Distribution des Buchs begleiten. Dafür funktioniert dieser Kanal. Um sich aber auf eine Geschichte einzulassen, auf ein Thema, braucht man Zeit. Wenn du den Insta Feed durchscrollst, muss es ein Foto sein, bei dem du stoppst, womit wir wieder bei dem Thema »solitäre spektakuläre Streetfotografien« sind.
Und das ist aber überhaupt nicht unser Ansatz, sondern wir wollen, dass man sich auf die Geschichte einlässt, dass man auch eine Selbstreflexion eingeht, dass man guckt, was macht das denn mit mir? Es geht nicht darum, einen schönen ästhetischen Schnellschuss zu produzieren, sondern man setzt sich mit dem
Thema auseinander, mit den Bildern oder auch einfach mit sich selbst im besten Fall.
Was ich noch wichtig finde: Beim Insta Feed ist es ja auch letztlich egal, was gerade gelaufen ist. Du hast das Gesehene auch schon wieder vergessen, weil es ja auch nur auf das Kurzzeitgedächtnis, auf das Ultrakurzzeitgedächtnis abzielt. Du siehst etwas und dann ist es ja auch schon wieder weg.
Wenn du durchscrollst, ist es ja wieder überlagert durch neue Geschichten.
Juliane Henrich:
Also wusstet ihr meist sofort: Dieses Bild ist es? Oder waren Bilder oft erst durch die Reibung mit anderen gesetzt oder durch den nächsten Moment, wo ein anderes Bild dazu kam?
Sind die Fotos sozusagen gewachsen als Bilderserien?
Sevrina Giard:
Das ist interessant, was du sagst, denn wir haben tatsächlich beim Durcharbeiten des Materials eine bestimmte Art der Zusammensetzung entwickelt.
Bei vielen Bildern wusste man schon beim Fotografieren: Das ist es! Beim Sortieren haben wir dann auch Bilder wiederentdeckt, die erst in der Verbindung mit anderen gewirkt haben. Sie waren Verstärkung, Ergänzung, Facette oder Kontrapunkt, damit das Narrativ des Unterthemas sichtbar wird.
Theo Steiner:
Man muss dabei vielleicht auch noch kurz betonen, dass das, was wir jetzt zeigen, eine Auswahl ist. Da gibt es Bilder im Archiv, die durchaus auch berechtigterweise in dem Buch mit drin sein könnten. Doch irgendwann mussten wir allein vom Umfang her gewisse Einschränkungen vornehmen, weil das Buch sonst nicht mehr zu handhaben wäre.
Sevrina Giard:
Wir zeigen jetzt ca. zwanzig Bilder pro Ort und Thema, manchmal ein bisschen mehr. Die Auswahl ist immer exemplarisch. Was passt an dieser Stelle oder was tritt miteinander in Beziehung. Man muss sich auch überlegen, in was für einer Reihenfolge baut man alles auf?
Zu den Sirenen in Athen fand ich zum Beispiel als erstes Bild das Frida-Kahlo-Mural und dachte mir sofort: Das passt. Frida Kahlo mit den beiden Pistolen in ihren Händen. Das Ganze habe ich dann noch mit einem Zitat flankiert. Nun hatte ich also dieses tolle Bild und musste mich fragen: An welche Stelle kommt das nun eigentlich? Damit unser Buch auch eine gewisse Dramaturgie hat, damit sich ein großer erzählerischer Bogen ergibt.
Das Entwickeln des Buchs war eigentlich ein filmisches Arbeiten, damit wir das Publikum auf
unsere Reise mitnehmen können.
Juliane Henrich:
Und euer Buch kann man ja immer von beiden Seiten auf einmal lesen und es sich während des Betrachtens zusammensetzen …
Sevrina Giard:
Wir haben immer überlegt: Was nehmen wir als Titelbild? Unser Buchgestalter kam dann auf die wunderbare Idee mit den zwei Titelanfängen. Wir wollten schließlich auch vermitteln, dass Jemandsland ein Projekt von uns beiden ist.
Mit welcher Städtereise steigt man also ein, wo hört man auf? Wir haben uns dann eben für zwei Cover entschieden, für zwei Einstiege, damit das eine gleichberechtigte Interpretation des Blicks auf unsere Welt ergibt. Sonst wäre es immer eine Gewichtung. Wer fängt an, wer hört auf? Die Sache mit den zwei Buchanfängen ist natürlich auch gestalterisch eine sehr spannende Geschichte, als Sinnbild der partnerschaftlichen Reise, die wir gemacht haben.
Theo Steiner:
Ich kann mit dem Sevrina-Giard-Cover einsteigen und blättere durch drei Städte mit sechs Themen bis zur Mitte. Dann muss ich das Buch einmal umdrehen und kann von der anderen Seite den Theo-Steiner-Einstieg machen, mit einem anderen Coverbild, und ich komme zu den anderen drei Städten mit ihren sechs Themen. Diese Idee hat uns sofort unheimlich gut gefallen, weil das Buch auf diese Weise die Grundkonstellation des Projekts klar widerspiegelt, die doch essenziell ist für das Projekt.
Sevrina Giard:
Dass das Buch zwei Anfänge hat, impliziert noch eine andere, ganz wunderbare Konsequenz: Das Buch oder die Reise hat damit auch kein Ende!
Juliane Henrich:
Ich bin schon sehr gespannt, dann tatsächlich auch mal so richtig zu blättern im Buch.
Theo Steiner:
Wir freuen uns auch schon sehr auf diese schöne Erfahrung, denn das Buch wird ein künstlerisches und gut durchdachtes Objekt werden. Die Arbeit mit dem Gestalter Tim Siegert war auch wirklich großartig und er hat uns sehr gut geholfen, diese Geschichten, die wir erzählen wollen, in Buchform zu vermitteln.
Juliane Henrich:
Mit diesen Bildern erzählt ihr von euren besonderen Begegnungen mit bestimmten Städten oder Orten in bestimmten Augenblicken. Glaubt ihr, dass die Betrachter:innen und Leser:innen diesen Blick mit euch teilen können?
Sevrina Giard:
Unbedingt, unbedingt. Das Buch mit seinen Bildern und Texten ist eine Einladung.
Wir beide haben uns auf die Reise gemacht, haben mit unseren Trigger-Geschichten verschiedene Perspektiven eingenommen, um die Welt zu betrachten. Und genauso laden wir jetzt das Publikum
ein, mit uns diese Reise zu machen. Das Buch ist ein Angebot: Schau doch mal, wo entstehen bei
dir Resonanzen?
Theo Steiner:
Wir haben immer dann Bilder gemacht, wenn die Geschichte und die Stadt zusammentrafen und dadurch in uns etwas zum Schwingen gebracht haben. Wenn also die Stadt gewissermaßen auf die Wünschelruten-Geschichte geantwortet hat. Jetzt hoffen wir, dass unsere persönlichen Resonanzerfahrungen durch die Bilder und Texte für das Publikum nachvollziehbar sind.
Sevrina Giard:
Wir haben im Freundeskreis im Vorfeld vielen Menschen die Bilder gezeigt, um zu sehen, was an Feedback zurückkommt. Dabei haben wir gemerkt, dass manche Bilder vielleicht nicht selbsterklärend sind und unsere Geschichten dazu wunderbare Ergänzung abgaben. Deshalb gibt es auch in dem Buch etliche Kommentare zu den Fotografien.
Theo Steiner:
Es war ein wichtiger Lernprozess für uns, dass die Leute natürlich erfahren wollen, wie wir zu diesen Bildern gekommen sind. Aus den Gesprächen im Freundeskreis haben wir unheimlich viel mitgenommen und sind dadurch in die Lage gekommen, das Material auf die Art und Weise zu präsentieren, wie wir das jetzt tun.
Juliane Henrich:
Ich habe vorhin gedacht, dass ihr gerade noch so vor der Pandemie gereist seid.
Wahrscheinlich wären inzwischen auch andere Städte interessant für euch. Gibt es Ziele, die ihr gerne noch bereisen würdet, um die Forschung weiterzuführen?
Theo Steiner:
Ja, darüber haben wir uns noch gar keine Gedanken gemacht, weil wir wirklich mit dem Auswerten des Archivs und mit der Produktion dieses Buches beschäftigt waren. Aber klar, die nächste Reise würde sicher anders ausfallen. Weil sich die Welt ein Stück weit verändert hat. Vor allem aber würde sie deshalb anders ausfallen, weil wir durch das Projekt so viel gelernt haben.
Das war eben ein Forschungsprojekt, wirklich im weitesten Sinne künstlerische Forschung. Wir sind mit vielen Überlegungen, mit viel Planung und Vorbereitung hineingegangen. Aber es ist natürlich nicht alles so passiert, wie wir uns das am Anfang gedacht hatten. Und in den Städten haben wir viel gelernt. Anfangs bin ich durch die Straßen gelaufen und dachte: Ich finde nichts zu meiner Geschichte. Am zweiten Tag ging es dann vielleicht schon ein bisschen besser und am dritten Tag war ich schließlich im Thema drin. Das heißt, wenn wir jetzt noch mal neu so ein Projekt aufsetzen würden, wären wir schon andere Menschen und würden wahrscheinlich gewisse Dinge schon anders tun.
Juliane Henrich:
Und wie geht es weiter mit dem Projekt?
Theo Steiner:
Wir hätten total Lust, einfach nur eine Stadt oder zwei Städte ein bisschen länger zu bereisen und zu schauen, was wir bei so einer langen Auseinandersetzung finden würden. Jetzt, nachdem wir in der ersten Jemandsland-Runde so viel gelernt haben. Es wäre aber auch faszinierend zu schauen, was herauskommt, wenn wir ganz Europa als Jemandsland untersuchen. Juliane, du hattest ja zu Beginn Robert Franks „The Americans“ erwähnt … Wenn man die Jemandsland-Methode auf Städte in allen europäischen Staaten anwenden würde, dann könnte diese Untersuchung auch wirklich so etwas wie „The Europeans“ werden …
Sevrina Giard:
Ich hätte auch Lust, unser Jemandsland-Projekt auf den asiatischen und amerikanischen Raum auszuweiten, gerne auch für einen längeren Zeitraum.
Theo Steiner:
Und es wäre toll, das Ganze mal mit Studierenden auszuprobieren, in einem Workshop, weil die Jemandsland-Methode, die hat schon Potenzial und dieser Versuch über eine gegebene Geschichte an einen neuen Blick heranzukommen, könnte für Studierende, glaube ich, eine tolle Anregung sein.
Sevrina Giard
Interessant wäre es auch, zu schauen, wie man all diese Geschichten in einer Ausstellung vermitteln kann. Du siehst: es gibt ganz viele Optionen. Auf jeden Fall würde ich gerne wieder hinausgehen in die Welt und dort weiterarbeiten und fotografieren. Und unsere Forschung wirklich noch fortführen.
Die Segel hissen und weiter.